Eine Glaubensfrage
Textil oder Leder? Ein heiß diskutiertes Thema unter Motorradfahrern.
Auf das Gesamtkonzept kommt es an
Früher war alles einfacher. Als Dennis Hopper 1969 sein Meisterwerk „Easy Rider“ der Öffentlichkeit präsentierte, war kaum von Schutzkleidung auf dem Motorrad die Rede. Hopper fuhr im Film selbst mit Lederjäckchen und -hose, Cowboy-Stiefeln und -Hut und vermittelte ein Feeling, das bis heute von uns Motorradfahrern wahrgenommen wird: das Freiheitsgefühl auf zwei Rädern.
Die Lederbekleidung gehört bis heute oft zum Biker-Look dazu. Das Leder wird gerne als Obermaterial der Motorrad-Bekleidung verwendet. In erster Linie bietet die wichtigste Eigenschaft des Leders – die Reissfestigkeit – einen optimalen Schutz, wenn der unglückliche Fahrer sich von der wegrutschenden Maschine verabschiedet und mit dem eigenen Körper über den Asphalt rutschen muss.
Leder hat aber auch Nachteile. Kälteschutz und Atmungsaktivität sind bei einer Lederkluft nicht optimal und Wasserdicht ist sie ohnehin nicht.
In diesen Bereichen spielt die in den letzten 20 Jahren in Mode gekommene Textilbekleidung ihre Vorzüge aus. Angenehm zu tragen, atmungsaktiv und in Kombination mit einer wasserdichten Membrane (z.B. Gore-Tex) bei jedem Wetter einsetzbar, erfreut sich die Textilbekleidung immer größerer Beliebtheit.
Und hier ist sie, unsere Glaubensfrage: Was ist denn besser Leder oder Textil?
Aus meiner Sicht wäre es aber etwas kurzsichtig, die Entscheidung, welche Motorrad-Kleidung die Beste ist, nur vom Aussenmaterial abhängig zu machen.
Die Auswahl der Aussenhaut ist zwar sicherheitstechnisch und optisch ein wichtiges Kriterium zum Kauf der eigenen
Motorrad-Ausrüstung. Aber Güte, Anzahl und Größe der eingesetzten Protektoren sowie die Verarbeitung des Kleidungsstücks spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle für die Qualität des von der ausgewählten Bikerkluft angebotenen Sicherheitskonzepts.
Und dazu sollte man ohne Zweifel den Einsatzzweck als Kaufkriterium hinzuziehen: Fahre ich bei Wind und Wetter oder nur, wenn die Sonne scheint? Bin ich eher auf der Rennstrecke zu Gange oder fahre ich lange Touren quer durch Europa?
Moderne Protektoren machen Sinn
Ein Herz für Biker wollte die Europäische Commission zeigen, als sie 1997 die erste Prüfnorm EN 1621-1 für Gelenkprotektoren verabschiedete. Diese Norm definiert, wie viel Restkraft die Protektoren im Fall einer äußeren Krafteinwirkung an das Gelenk weiterleiten dürfen. Wenn man sich die Norm etwas genauer anschaut, fängt man an zu grübeln: Die definierte Restkraft ist mit 35 Kilonewton (kN) so hoch, dass kein Knochen ihr standhalten könnte. Medizinische Studien haben bewiesen, dass menschliche Knochen bereits bei Kräften im Bereich zwischen fünf und sieben kN brechen.
Einige Protektoren-Hersteller bieten zum Glück längst mehr als die Norm verlangt. Aktuelle Vergleichstests zeigen, dass die besten Protektoren die NormVorgabe teilweise um mehr als 70 Prozent unterbieten. Aus meiner Sicht ist die Zeit für eine Überarbeitung der 15 Jahre alten Vorgabe gekommen. Dazu gehört nicht nur die Reduzierung der zulässigen Restkraft sondern ein weiterer Aspekt des Protektoren-Schutzes: der Kraft-Zeit-Faktor.
„Die maximale Restkraft ist nur ein Aspekt – schließlich schafft das auch ein 20 Millimeter dickes Stück Fichtenholz“, doziert eindrucksvoll Dipl. Ing. Holger Hertneck, vom Protektor-Hersteller SAS-TEC. „Gute Protektoren dämpfen auftretende Kräfte linear über einen langen Zeitraum ab. Der menschliche Körper kommt damit viel besser zurecht als mit ruckartigen Verzögerungen und extremen Kraftspitzen“, erzählt er weiter. Also aus einem Karate-Schlag einen heftigen Schubs machen. So stelle ich mir die Hauptaufgabe der Protektoren vereinfacht vor.
Das ist aber bei weitem nicht alles, was gute Schützer bieten: Auch bei einer Rutschpartie auf dem Asphalt sind Protektoren ein nicht zu unterschätzender Beitrag zum Schutz vor Verletzungen unabhängig davon, ob das Außenmaterial Leder oder Textil ist.
Die Verarbeitung macht viel aus
Jeder Motorradfahrer sollte es wissen: Die Schützer müssen im Fall der Fälle korrekt sitzen. Ein beim Aufprall falsch platzierter Protektor würde u.U. den schlechtesten Schutz bieten: keinen.
Um dies zu vermeiden, muss die Kluft so am Körper anliegen, dass ein Rutschen der Protektoren erschwert, idealerweise verhindert wird. Protektoren der OberligaBekleidung sind in der Regel fest mit der Aussenhaut der Klamotten vernäht. Diese Zusammensetzung ist stabiler, als wenn die Protektoren lose in ein InnenfutterTäschchen geschoben werden.
Noch ein wichtiger Punkt der Verarbeitung sind klar die Nähte, eine bekannte Schwachstelle. Generell gilt: Eine großflächige Verarbeitung der Aussenhaut mit weniger Nähten ist zu bevorzugen. Eine Anmerkung hierzu: Kunststoffgarn und Sicherheitsnähte sind heute Standard – und das seit vielen Jahren.
Was ist denn eine Sicherheitsnaht?
Bei ihr wird die eigentliche Naht geschützt, die das Bekleidungsstück zusammenhält. Eine Lage Aussenmaterial liegt dann gefaltet und erneut vernäht über dieser Naht. Damit soll verhindert werden, dass beim Rutschen auf dem Asphalt, die das Obermaterial zusammenhaltende Nahtstelle schnell aufreisst.
Der psychologische Faktor
Und der Fahrer selbst? Was spielt er für eine Rolle in diesem Zusammenspiel mit den eigenen Klamotten? Die Antwort ist vergleichsweise einfach: Ein Biker muss sich „in seiner Haut“ wohl fühlen. Einerseits soll die zweite Haut objektive Sicherheit bieten. Andererseits muss der Biker sich subjektiv ausreichend gerüstet fühlen für den Fall der Fälle. Und: Die beste Leder-Combi hilft wenig, wenn das an sich perfekt sitzende Kleidungsstück als zu eng bzw. unbequem empfunden wird. In so einem Fall geht ein Teil der Konzentration beim Fahren schlicht und einfach verloren und das Unfallrisiko steigt dann erheblich. Der Trage-Komfort steht demnach auch weit oben auf dem Arbeitszettel der Motorradbekleidungshersteller.
Ob Leder oder Textil, für beide Varianten gilt: Die Bekleidung soll in Fahrposition anprobiert werden. Nur so kann der Biker beurteilen, ob das Bekleidungsstück tatsächlich passt oder nicht. Die kompaktsportliche Sitzhaltung auf einem Supersportler ist einfach anders als die entspannt-bequeme auf einem Cruiser.
Früher war alles besser?
Die Technik entwickelt sich immer weiter. Eine gute, moderne Motorradbekleidung bietet für den jeweiligen Einsatzzweck die optimale Schutzwirkung. Ob Landstraße oder Rennstrecke, die von den Motorrad-Klamotten angebotene, passive Sicherheit ist ein zentraler Bestandteil für den Spaß auf zwei Rädern.
Ich frage mich regelmäßig, ob meine Motorrad-Ausrüstung noch zeitgemäß ist. Am liebsten lasse ich mich von ProfiAusrüstern beraten, ob beispielsweise meine zweite Haut noch allen modernen Anforderungen entspricht. Dabei darf nicht vergessen werden, dass alle Materialien dem natürlichen Alterungsprozess unterworfen sind. UV-Strahlung beispielsweise lässt Kunststoffgarn genauso wie Motorradreifen spröde werden.
Und selbstverständlich ist die SchutzBekleidung nur ein Teil der Biker-Ausrüstung. Helm, Stiefel und Handschuhe gehören dazu.
Dennis Hopper und Peter Fonda mit schwulstiger Leder-Combi oder quietschgelber Textil-Jacke? Ich muss zugeben, das hätte wahrscheinlich nicht so gut ausgesehen. Wie ich schon sagte: Vielleicht war es früher einfacher. Aber bestimmt nicht sicherer.
Ausprobieren? Nein, danke!
Egal wie gut der Schutz durch eine zeitgemäße Motorrad-Ausrüstung ist: Die Folgen eines Abstiegs vom Mopped sind immer unberechenbar. Ich möchte die Schutzwirkung meiner Klamotten nicht ausprobieren. Mein Motto ist: Nur ein entgangener Unfall ist ein guter Unfall.
Uns Motorradfahrern muss klar sein, dass wir einem höheren Risiko ausgesetzt sind als beispielsweise Autofahrer. Ungetrübte Konzentration, eine blitzschnelle (richtige) Entscheidung gefolgt von einer gekonnten, routinierten Handlung können uns Biker – im Fall der Fälle – das Leben retten. Noch besser ist es: gar nicht in eine Notsituation zu geraten.
Gefahren vermeiden und Notsituationen im Straßenverkehr bewältigen sind die Hauptanliegen von uns Trainern im Fahrsicherheitszentrum Hansa/Lüneburg. Hierfür sollte man öfters üben, denn: Die Übung macht den Meister. Unsere Motorradtrainings in der größten Fahrsicherheitsanlage Norddeutschlands bieten dafür optimale Bedingungen.
Gefahrensituationen erkennen, ein Notmanöver mit der eigenen Maschine testen, evtl. sich an die eigenen Grenzen herantasten und ein reger Austausch unter Bikern: das alles macht im Motorradtraining sehr viel Spaß. Egal ob mit Leder oder Textil. Garantiert!
Copyright © Alberto Salvagnini, 2012