Lebensretter ABS
Ohne Wenn und Aber: ABS macht das Motorradfahren sicherer
An die erste Probefahrt auf einer mit ABS ausgestatteten Maschine vor ca. zehn Jahren kann ich mich noch gut erinnern. Verheißungsvoll hatte der Motorradhändler gesagt: „Und beim Bremsen brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, einfach Zwinge zu und gut.“ Ich hatte viel darüber gelesen, wie der in der StVZO genannte „Automatische Blockierverhinderer“ funktionierte und brannte darauf, das System endlich einmal selbst auszuprobieren.
Es gab da allerdings ein Problem: Das schnelle, aber trotzdem gefühlvolle und konzentrierte Dosieren der Vorderradbremse war für meine Hand regelrecht
zu einem Dressat geworden. Deshalb brauchte ich einige Versuche und viele Schweißperlen, um auf einem etwas losen Untergrund zum ersten Mal in den ABS-Regelbereich abzubremsen: Die Hebel der Hand- und Fußbremse pulsierten, begleitet von einem leisen Geräusch: „klack, klack, klack“. Die Maschine blieb stabil in ihrer Spur, hielt an und ich war sofort begeistert.
Wenige Tage später fuhr ich meine erste eigene ABS-Maschine.
Wie funktioniert ABS?
Ich versuche, die ABS-Funktionsweise stark vereinfacht zu erklären: Das ABS misst permanent die Raddrehzahl beider Räder. Wenn das System während einer Bremsung bei einem Rad eine starke Drehzahl-Absenkung – z. B. eine Blockade – registriert, wird an der Bremse dieses Rades der Bremsdruck gemindert. Das Rad kann wieder frei rollen. Danach wird der Bremsdruck erneut erhöht und das Spiel beginnt von vorn. Dieser Prozess wird als „Regelvorgang“ bezeichnet.
Schaffte es die erste ABS-Generation, gerade mal sieben Mal pro Sekunde zu regeln, erreichen die modernen Systeme bis zu 15 Regelvorgänge in der Sekunde!
Das primäre Ziel des ABS für Motor-räder besteht nicht darin, einen kurzen Bremsweg zu erreichen. Vielmehr verhindert das ABS das Blockieren der Räder zugunsten einer stabilen Geradeausfahrt.
Stammtischdebatten
Immer noch gibt es „Stammtischdebatten“ – auch wenn diese heute oftmals in Internet-Blogs stattfinden –, in denen Argumente gegen eine ABS-Ausstattung des Motorrads vorgebracht werden: „Zusätzliches Gewicht“, „Macht die Maschine teuer“, „Ich kann besser bremsen“, so etwas liest man da.
Doch trifft das wirklich zu? Besser ist es, einfach mal genau nachzudenken und nachzurechnen: Das Gewicht der ABS-Anlagen ist geschrumpft und spielt aufgrund der immer stärker motorisierten Maschinen kaum mehr eine Rolle. Mit einem Leistungsgewicht von 2,08 hat man mit der BMW R 1200 GS – dem bis Mai 2011 meistverkauften Motorrad Deutschlands – genug Reserve, um flott unterwegs zu sein. Vergleicht man dazu das Leistungsgewicht von 1,07 der BMW
S 1000 RR, stellt man fest, wie absurd dieser Diskussionspunkt ist (Leistungsgewicht gerechnet mit den Angaben von der BMW-Motorrad-Homepage: Leergewicht fahrfertig, vollgetankt/Nennleistung – S 1000 RR mit Race ABS).
Ich wage eine Prognose: In wenigen Jahren werden Motorräder ohne ABS auf dem Gebrauchtmarkt schlechter zu verkaufen sein als Gefährte, die mit diesem „Lebensretter“ ausgestattet sind. Und was ist mit der persönlichen „besseren“ Bremsleistung?
Früher – in Zeiten der ABS-Anfänge – waren routinierte Biker, Testfahrer etwa, mit einer ohne Blockierverhinderer ausgestatteten Maschine durchaus in der Lage, die ABS-Bremswege zu unterbieten. Inzwischen ist die Technik so fortgeschritten, dass dies selbst routinierte Fahrer unter Testbedingungen nicht mehr schaffen. Dieses hat der ADAC zusammen mit der Zeitschrift REISE MOTORRAD in einem bereits 2005 veranstalteten ABS-Vergleichstest festgestellt.
Der Alltag von „Otto-Normal-Biker“ im Straßenverkehr sieht ohnehin ganz anders aus als auf einem Testgelände – dort, wo die Griffigkeit der Fahrbahn, anders gesagt: das Resultat der Paarung Reifen/Untergrund, nach einigen Testbremsungen einigermaßen bekannt ist. Die Realität auf der Straße ist Folgende: wechselnde Straßenbeläge mit Bitumstreifen, weil die Fahrbahn geflickt wurde, Schmutz auf der Straße, wenn der Traktor aus dem Acker einbiegt, oder – besonders unbeliebt – eine Rollsplittschicht, weil der Belag erneuert oder ausgebessert wurde. Und hin und wieder regnet es auch noch...
Auf jeden Fall ABS
Einfacher ausgedrückt: Die Griffigkeit der Fahrbahn im normalen Straßenverkehr ist schwer bis gar nicht einzuschätzen! Selbst ein routinierter „Bremser“, der bei solchen Gegebenheiten eine Gefahrenbremsung in einer Stresssituation durchführt, stößt unweigerlich an seine Grenzen. Hier ist die ABS-Technik ausnahmslos überlegen: Überbremst der Biker während einer Geradeausbremsung eines oder beide Räder, regelt das System souverän und verhindert in den meisten Fällen einen Sturz.
Die Technik schreitet voran
Aus der ursprünglichen Absicht, eine Radblockade und damit einen Sturz zu verhindern, hat sich, wie auch im PKW-Bereich, die gesamte Bremsanlage eines Motorrades zu einem komplexen System entwickelt. Eine Verbundbremse mit einer intelligenten Bremskraftverteilung, eine Hinterrad-Abheberegelung und eine Antischlupfregelung sind heute zum Teil Bestandteil der modernsten „Assistenzsysteme“. Das ist sehr erfreulich und für die Sicherheit ein großer Gewinn.
Die Technik kann aber auch ihre Tücken haben. Möchte beispielsweise der Biker beim Wenden oder bei einer engen Kehre nur die Hinterradbremse zum Stabilisieren/Verlangsamen der Fuhr benutzten, so muss er mit einer Kippneigung der Maschine Richtung Kurveninnerem rechnen, wenn das Verbundsystem die Vorderradbremse mitbremsen lässt. Der Fahrer sollte in so einer Situation ganz genau wissen, wie die eigene Maschine reagiert. Hierfür muss er die verbaute Technik kennen. Und die kann ganz schön kompliziert sein. Beispiel CBS (Combined Brake System) von Honda: Single CBS, Dual CBS, Dual CBS-ABS (DCBS-ABS) und e-C-ABS (elektronisch gesteuertes Combined ABS) sind die von Honda seit 1983 verbauten Systeme. Insbesondere das Dual CBS (seit 1993) wurde von Honda je nach Motorradtyp unterschiedlich ausgelegt bzw. technisch verändert. Pauschal könnte man unserem DCBS-Biker sagen: Mit der Fußbremse wird, je nach Modell und Baujahr, eine unterschiedliche Anzahl an Bremskolben sowohl an der Vorder- als auch an der Hinterradbremse gleichzeitig aktiviert, direkt oder indirekt. Alles klar?
Zum Trost sei gesagt: Selbst einem erfahrenen und technikkundigen Motorradtrainer kann es schwindlig werden bei der Vielzahl an Möglichkeiten. Unser Normalo-Biker sollte in erster Linie die eigene Maschine gut kennen.
Und ich sage dazu: Es kann u. U. lebensgefährlich sein, über die Technik des eigenen bzw. ausgeliehenen Moppeds nicht Bescheid zu wissen. Beispiel gefällig? Die mit Race-ABS ausgestattete BMW S 1000 RR hat vier sogenannte Fahrmodi, die auf Knopfdruck abrufbar sind: „Rain“, „Sport“, „Race“ und „Slick“. Wählt der Fahrer die Modi „Race“ oder „Slick“, ist die Hinterrad-Abheberegelung deaktiviert – bei eingeschaltetem ABS! Oder: Im „Slick“-Modus funktioniert die ABS-Regelung am Hinterrad nicht, wenn die Hinterradbremse allein betätigt wird, auch hier bei eingeschaltetem ABS.
Die sogenannte „Hinterrad-Abhebe-
regelung“ ist ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Bremst der Fahrer kräftig und bleibt dabei kurz unterhalb des ABS-Regelbereichs – eine optimale Bremsdosierung – kann bei günstigen Gripverhältnissen das Hinterrad abheben: ein Stoppie! Das ABS-Steuergerät soll dabei eine starke Drehzahl-Absenkung des Hinterrades erkennen und den Bremsdruck bei der Vorderradbremse verringern. Aber: In bestimmten Konstellationen könnte die Physik schneller sein als die Technik, wenn etwa der Fahrer einer Maschine mit kurzem Radstand und Sozius hintendrauf bei starkem Gefälle eine deftige Bremsung hinlegen muss. Frei nach der Devise „Selbst ist der Mann/die Frau“ gilt es nun, schnell am Handbremshebel den Druck zu verringern! Hat die Maschine eine Verbundbremse, bei welcher der Fußbremshebel die Vorderradbremse mitbetätigt, muss schnell an beiden Bremsen der Bremsdruck gemindert werden. Fluch und Segen der Technik.
Fahrer in die Pflicht
Die moderne Technik nimmt den Fahrer in die Pflicht, informiert zu sein. Wissen, was das eigene Mopped kann, ist die unabdingbare Voraussetzung, um die vielen Helferlein gekonnt einzusetzen. Dann gilt: mit der Maschine üben und die Technik immer wieder ausprobieren, am besten bei einem Fahrsicherheitstraining. Damit es am Ende ein perfektes Zusammenspiel zwischen moderner Technik und fachkundigem, routiniertem Fahrer wird. Und: Übung macht den Meister.
So einfach ist das.
Mein Fazit: Die modernen Fahrersysteme machen das Motorradfahren schlichtweg sicherer. Insbesondere das ABS kann Leben retten.
Nächstes Jahr werde ich mir ein neues Motorrad kaufen. Natürlich mit ABS.
Copyright © Alberto Salvagnini, 2011